24. Kapitel
Nell stand blinzelnd in der großen marmornen Eingangshalle. Ihre Augen brauchten einen Moment, um sich nach der langen Zeit in der abgedunkelten Kutsche an das helle Tageslicht zu gewöhnen, das durch die hohen Fenster hereinströmte. Katja hob ihr kleines Köpfchen von Nells Schulter und versuchte aus der dicken Decke herauszuschauen, in die sie und ihr Cousin gewickelt waren, gab jedoch rasch auf und schlief weiter, ebenso wie Mitja. Nell, die beide Kinder im Arm hielt, trat vorsichtig näher. Bewundernd hing ihr Blick an der hohen Decke mit den wunderschönen farbigen Fresken. Sie hatte geglaubt, Shelton Hall sei unübertrefflich prächtig, doch dieses Haus, das Haus seiner Schwester, stellte es noch in den Schatten.
Ein wohlhabender Gentleman? Von wegen! Mikhail war unverschämt reich und seine Schwester ebenso, wie es schien. Es würde sie nicht überraschen, wenn sich herausstellte, dass er sogar einen Adelstitel besaß. Und dieser Mann spielte ihren Ehemann! Irgendein kleines Teufelchen lachte sich jetzt gerade sein schwarzes Herz aus dem Leib.
»Ist das zu fassen! Nicht daheim! Also so was!«
Nell warf einen Blick auf die Frau, die ihnen seit zwei Tagen nicht mehr von der Seite gewichen war, und seufzte.
Lady Caroline Denver war es, die ihnen ihre Kutsche hat - ausleihen sollen - Mikhails gute Bekannte. Und zu ihrer Verteidigung musste man sagen, dass sie dies auch sofort getan hatte, nachdem sie Mikhails Schreiben gelesen hatte - nur dass sie beschloss, sich ihnen anzuschließen, war unerwartet. Seitdem hatte Nell mehrmals gegen das Bedürfnis ankämpfen müssen, sich mitsamt den Kindern aus der fahrenden Kutsche zu werfen.
Bei den chinesischen Meistern der Langmut, diese Frau redete ohne Punkt und Komma! Über ihren Bruder, über ihre Cousinen, ihre Pferde und ihre Dienstmägde. Da sie Nell und Morag offenbar für solche hielt, hatte sie nicht aufhören können, sich über das heutige Personal zu beschweren: Wie schwer es doch sei, anständige Dienstmägde zu finden, wie impertinent die meisten seien und wie verdorben in ihrer Moral. Nell bezweifelte, dass der Lady klar war, wie beleidigend ihre Äußerungen waren. Oder wie sehr sie ihnen mit ihren Forderungen, die schreienden Babys zum Schweigen zu bringen, zusetzte.
Babys schrien nun mal, das musste doch selbst Aristokraten bekannt sein, oder? Aber Nell hatte den Mund gehalten. Tatsächlich hatte sie nach dem ersten notwendigen Wortwechsel überhaupt nicht mehr den Mund aufgemacht. Es erschien ihr einfacher so ...
»Sie sind nicht daheim?«, platzte es jetzt aus Nell heraus, die wie aus einer Trance erwachte. Aber sie mussten zu Hause sein! Die Kinder brauchten Schutz!
»Ach, du hast also doch eine Zunge, wie?«, bemerkte Lady Denver spitz und schüttelte affektiert ihre blonden Locken. Für eine Frau, die seit zwei Tagen unterwegs war, wirkte sie ungewöhnlich würdevoll. Im Gegensatz zu mir, dachte Nell. Ich sehe aus wie etwas, das die Katze reingebracht hat.
»Sie sind nicht da, sagten Sie?« Nell war außer sich vor Sorge. Die Frau musste sich irren.
»Na, ich verstehe, warum du nicht viel sagst. Du bist nicht besonders intelligent, nicht wahr? Hat dir denn niemand gesagt, dass du mich mit meinem Titel anreden musst? Und warum befreist du die Kinder nicht aus diesem hässlichen Lumpen, in den du sie gewickelt hast?«
Nell musste sich auf die Lippe beißen, damit ihr nichts herausrutschte. Überhaupt hatte sie sich in den letzten zwei Tagen ziemlich oft in die Lippe beißen müssen. Sie hatte nicht die Absicht, Lady Denver zu erklären, dass sie dem Personal hier nicht vertraute und die Kinder deshalb eingewickelt hatte, damit keiner bemerkte, dass das Kind der Hausherrin zurückgekehrt war.
»Na, sie sind jedenfalls nicht da«, betonte die Lady. »Aber der Butler hat mir versichert, dass sie bald hier sein werden. Man wird mich nach oben führen, damit ich mich ein wenig frisch machen kann. Sieh zu, dass du dich inzwischen nützlich machst!« Mit diesen Worten fuhr sie herum und stakste mit wippenden Locken davon, ließ Nell allein mit den Kindern in der Halle stehen.
Nell konnte die Kinder kaum noch halten. Verzweifelt schaute sie sich um. Wo war Morag? Die Alte war sofort nachdem man sie hereingeführt hatte verschwunden. Und die Tatsache, dass sie ihr, Nell, noch eine rasche Umarmung hatte zukommen lassen, ließ vermuten, dass sie gegangen war. Zurück ins Dorf. Nell war jetzt ganz auf sich allein gestellt.
Plötzlich flog hinter ihr die Tür auf, und Nell zuckte erschrocken zusammen.
»Tut mir leid, Miss, ich wollte Sie nicht erschrecken.«
Ein mit mehreren Päckchen beladener Mann trat ein. Er legte seine Last auf einem Garderobentischchen ab und wandte sich ihr lächelnd zu. Er war ein gutaussehender Mann, groß, schwarze Haare, scharfe Gesichtszüge; ein Page, der Livree nach zu schließen. Nell, die zum ersten Mal seit zwei Tagen wieder mit Respekt behandelt wurde, erwiderte sein Lächeln.
»Das macht nichts. Ist ja nichts passiert.«
Der Mann deutete auf die in die Decke gewickelten Kinder. »Sieht ziemlich schwer aus. Brauchen Sie Hilfe?«
Nell wurde sofort misstrauisch. Ängstlich drückte sie die Kinder an sich und schüttelte den Kopf. Die Mörder konnten doch nicht schon hier sein, oder?
»Danke, nein«, sagte sie.
Am besten, sie suchte sich so schnell wie möglich ein ruhiges Plätzchen, wo sie sich verstecken konnte, bis die Hausherrin wieder da war. Sie nickte dem Mann zu und nahm den Korridor zu ihrer Rechten. Nell kam an mehreren Türen vorbei, bis sie schließlich eine fand, die halb offen stand. Sie überzeugte sich mit einem raschen Blick, dass sie unbeobachtet war, dann huschte sie hinein und machte die Tür zu.
Es war ein großes Zimmer, in dessen Mitte ein herrlicher Konzertflügel stand. Darum herum gab es zahlreiche Sessel und Sofas.
»Ist das nicht hübsch?«, flüsterte Nell den Kindern zu und strich mit einem Finger über die glänzende Lackoberfläche des Flügels. »Ich frage mich, wer wohl Klavier spielt, deine Mutter oder dein Vater, Mitja?«
Da spürte sie auf einmal, wie müde sie war. Ihr Körper fühlte sich regelrecht zerschlagen an - kein Wunder, nach zwei Tagen auf einem Pferderücken und gleich anschließend zwei Tagen in einer Kutsche. Nell schaute sich nach einem Ruheplätzchen um. Es musste aber versteckt sein, damit sie nicht vom Personal entdeckt wurde ... Da fiel ihr Blick auf einen Stuhl, der halb verborgen hinter einer großen Topfpflanze in einer Ecke stand. Wahrscheinlich für einen Diener, der sich von dieser Position aus unauffällig um die Bedürfnisse von Gästen kümmern konnte.
Müde ging Nell dorthin und ließ sich mit einem Seufzer der Erleichterung nieder. Dann schlug sie die Decke zurück, in die sie die Kinder gewickelt hatte. Beide schliefen mit rosigen Wangen, die kleinen Fäustchen unters Kinn gezogen. Vielleicht waren sie ja jetzt endlich in Sicherheit... Mit diesem tröstlichen Gedanken schlief Nell ein.
»Diese unmögliche Dienstmagd! Sie sollten sie auf der Stelle entlassen, Prinzessin Kourakin! Gerade war sie noch hier!«
Nell fuhr mit einem Ruck aus dem Schlaf. Lady Denvers Stimme war durchdringender als jedes Tamburin! Ein rascher Blick zum Fenster zeigte ihr, dass bereits die Dämmerung hereingebrochen war - sie musste mindestens zwei Stunden geschlafen haben! Rasch schaute sie nach den Kindern. Beide waren wach. Und wahrscheinlich schrecklich hungrig, die armen Schätzchen!
»Caroline, bitte erklären Sie es mir noch einmal. Was genau hat mein Bruder gesagt?«
»Nun ja, wie gesagt, es ging alles so schnell, der Arme hatte nur Zeit, mir einen Brief zu schicken ...«
Nell war aufgestanden und wollte gerade zur Tür gehen, als die beiden Frauen auch schon hereinkamen. Nell erkannte sofort die Ähnlichkeit der ihr Unbekannten mit Mikhail. Das musste seine Schwester sein.
»Angelica?«, fragte sie zögernd, aber die Frau beachtete sie kaum, ihr Blick hatte sich sofort auf die Kinder gerichtet.
»Mein Gott!«
Angelica rannte auf sie zu, die Arme nach den Kindern ausgestreckt. Nell war fast sicher, dass diese Frau Mikhails Schwester war, aber eben nur fast. Und der kleine Rest Zweifel bewirkte, dass sie sich automatisch abwandte, um die Kinder zu schützen.
»Wie kannst du es wagen, du unverschämte kleine Ratte!« Lady Denver kam mit zornrotem Gesicht auf sie zugeschritten und holte aus. Nell krümmte den Oberkörper schützend über die Kinder, damit die Frau nicht aus Versehen die Kinder traf. Ein lautes Klatschen ertönte, und Nell klingelten die Ohren. Ihre Wange brannte, sie schwankte und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Diese Gelegenheit ausnützend, riss ihr Lady Denver die Kinder aus den Armen. In diesem Moment stürzten zwei Pagen herein, die durch den Lärm alarmiert worden waren.
»Bringen Sie diese, diese ... Bringen Sie sie weg!«, befahl Lady Denver.
Nell wehrte sich nicht, als die beiden Pagen sie daraufhin bei den Armen packten, sie war sogar froh um die Stütze, da sie beinahe zusammengebrochen wäre.
»Stop!«, befahl nun die Prinzessin, die endlich aus ihrer momentanen Starre erwacht war. »Caroline, geben Sie mir die Kinder.«
Als Lady Denver den zornigen Gesichtsausdruck der Prinzessin sah, gab sie sogleich die Kinder heraus. »Natürlich!«, stammelte sie, »ich habe sie ja nur für Sie gehalten. Aber diese dreckige kleine ...«
»Genug!«
Angelicas Blick richtete sich nun auf Nell. Einen Moment lang musterte sie sie zweifelnd, doch all das war vergessen, sobald sie die Kinder in den Armen hielt. Nell sackte erleichtert zusammen. Nur eine Mutter konnte ihre Kinder auf diese Weise anschauen. Sie musste Mikhails Schwester sein, aber eine Prinzessin? Da musste ein Versehen vorliegen ...
Die Prinzessin blickte auf. »Ich bin Mikhails Schwester.«
Nell riss verblüfft die Augen auf. Hatte sie laut gedacht? Aber egal warum die Prinzessin ihre unausgesprochene Frage beantwortet hatte, es war genau das, was sie hören wollte.
»Gott sei Dank!«, stieß sie erleichtert hervor. »Ich wusste nicht, wem ich vertrauen kann, und wir waren auf der Flucht und ...« Sie wollte einen Schritt machen, wurde jedoch von den Pagen festgehalten. Das erinnerte sie daran, dass sie kein willkommener Gast in diesem Hause war.
»Ihr Name?«, fragte Angelica barsch, als ob sie nichts von dem gehört hätte, was Nell gesagt hatte.
»Nell«, antwortete diese verlegen. Sie wusste nicht, wie man eine Prinzessin korrekt anredete, und es war schwer, an Manieren zu denken, wenn man nicht wusste, ob der Mann, den man liebte, in Sicherheit war oder nicht. Und die Kinder. »Ich heiße Nell, Euer Gnaden.«
»Nell«, wiederholte Angelica langsam. »Lasst uns allein«, befahl sie den Pagen.
Die Männer ließen Nell los und verschwanden ohne Zögern.
»Aber Prinzessin Kourakin, Sie können diese unverschämte Person doch nicht so einfach laufen lassen!«, beschwerte sich Lady Denver. Nell wünschte aus ganzem Herzen, sie würde verschwinden, damit sie allein mit Mikhails Schwester reden konnte. Sie musste ihr doch sagen, was Mikhail plante, wo er war. Und dass ihm jemand helfen musste! Vielleicht war er ja verletzt?
»Caroline, wenn Sie uns bitte einen Moment allein lassen würden. Ich muss mit Miss Nell sprechen.«
Lady Denver plusterte sich empört auf, wagte es aber nicht, sich Angelica zu widersetzen, die gesellschaftlich weit über ihr stand. Sobald sich die Tür hinter den voluminösen Röcken der Dame geschlossen hatte, griff Nell in ihre Tasche und holte den Brief hervor, den Mikhail ihr für seine Schwester mitgegeben hatte.
»Ihr Bruder hat mich gebeten, Ihnen dieses Schreiben zu überreichen, er meinte, Ihr Mann könnte die Kinder beschützen.« Sie reichte Angelica den Brief. »Er selbst ist auf Shelton Hall zurückgeblieben. Er hat vor, sich ihnen zu stellen. Er sagte, seine Chancen stehen gut, aber ...«, die Worte sprudelten nur so aus Nell hervor.
Die Prinzessin musterte sie verwirrt. »Einen Moment Bitte fangen Sie ganz von vorne an. Wo ist Mikhail?«
Nell holte tief Luft. »Tut mir leid, ich weiß, dies ist nicht der rechte Zeitpunkt, um in Panik auszubrechen, aber ich nun, ich habe ein paar schwere Tage hinter mir, und bei Nelsons fehlendem Auge, ich habe versprochen, mich um die Kinder zu kümmern, aber er bestand darauf, uns fortzuschicken ...«
»Bitte!« Angelica legte Mitja neben Katja und schüttelte Nell bei den Schultern. »Sie müssen sich beruhigen! Alles ist gut. Die Gefahr ist vorbei, in London sind die Kinder in Sicherheit.«
»In Sicherheit?« Unmöglich. Sie hatten auch geglaubt, in New Hampton in Sicherheit zu sein, aber sie hatten sich geirrt. »Wie können Sie da so sicher sein?«
»Mein Mann und die anderen haben die Namen der Schurken herausgefunden, die hinter den geplanten Anschlägen auf unsere Kinder stecken. Sie wurden alle festgenommen.«
Festgenommen? Auch die, die ihnen vor ein paar Tagen gefolgt waren? »Alle? Auch die in New Hampton?«
»New Hampton? Wann? Wie viele waren das?« Angelica war vollkommen verwirrt.
»Vor vier Tagen. Drei, glaube ich. Aber Mikhail war sicher, dass noch mehr in Shelton Hall auf ihn warten würden. Er hoffte es sogar, denn das war sein Plan.«
»Dieser Narr!«
Erzürnt wandte sich die Prinzessin von Nell ab. Wortlos starrte sie in eine Zimmerecke. Was tat sie?
Kurz darauf drehte sich Angelica wieder zu ihr um.
»Mein Mann ist schon unterwegs. Er wird sofort ein paar Männer nach Shelton Hall schicken.«
Nell versuchte ihre Überraschung zu verbergen. Wann hatte die Prinzessin ihren Mann kontaktiert? Sie verstand das alles nicht. Das wollte sie auch gerade sagen, aber Angelica hatte inzwischen Mikhails Brief geöffnet und las ihn rasch durch.
In diesem Moment stieß Katja ein leises Wimmern aus. Nell beugte sich automatisch über sie und sprach beruhigend auf sie ein. »Psst, Schätzchen, kein Grund zum Weinen.« Die Kleine verzog das Gesicht, aber ihre Unterlippe hörte auf zu zittern, was ein gutes Zeichen war. Wenn jetzt bloß nicht Mitja auch noch anfing ...
»Nell.«
Nell blickte auf. Angelica schaute sie mit einem überraschten Ausdruck an, den Nell mit einem fragenden erwiderte.
»Mein Bruder schreibt hier, dass ich mir keine Sorgen um die Sicherheit der Kinder machen muss, solange Sie bei ihnen sind. Er schreibt auch, dass ich Sie bitten soll, das zu erklären, wenn Sie wollen.«
Nell verzog das Gesicht. Wie viele mussten denn noch von ihrem hässlichen Geheimnis erfahren, bis diese schreckliche Sache endlich vorüber war?